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Ein heimlicher Besuch in Seehafen

Anmerkung der Redaktion: Wir wollten schon immer einmal über die Grenzen Gespinsterwalds hinausblicken und mehr über die gesamte Wirbelwelt erfahren, wie du vermutlich auch. Leider wurden sämtliche Gesuche vom Schöpfer persönlich abgelehnt. Die Neugier hat uns keine Ruhe gelassen: Mitten im Winter, bei Nacht und Nebel, haben wir ein kleines Team das Gilbtal hinabgeschickt. Es kehrte erfolgreich zurück und ermöglicht uns einen seltenen Einblick in das Leben von drei Seehafner Persönlichkeiten.


Die Kutscherin vom Binsenloch

Wenn Elsi Breschweid lacht, glitzert ihr goldener Eckzahn im Sonnenlicht. "Ein Überbleibsel der wilden Jahre", brüllt sie durch den schneidenden Ostwind, und schiebt die dünne Zigarre in den anderen Mundwinkel. Ihr runzliges Gesicht ist verkniffen, die Schirmmütze hat sie tief in die Stirngezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen. Zweimal in der Woche kutschiert sie Reisende über das zugefrorene Binsenloch. Wir sitzen hinter ihr auf einer Holzbank des Pferdeschlittens, dick in Wolldecken eingepackt. Unser Ziel: Seehafen.


Das Binsenloch ist ein schmaler See am Lauf der Gilbe, umgeben von zerfurchten Tälern und tiefverschneiten Wäldern, etwa 25 Meilen lang aber durchschnittlich nur drei Meilen breit. Im Norden leuchtet hin und wieder der Ostgipfel der Ninifauk durch die Wolken. "Spätestens im Dezember ist das Eis dick genug, und meist hält es bis April", verrät uns Elsi. Während dieser Zeit zieht sie für die Seehafner Holzgesellschaft Baumstämme über das Eis, manchmal auch Passagiere. Im Sommer aber steigt sie in hoch in die Berge und mäht wildes Heu, das sie auf dem Markt an die lokale Bauernschaft verkauft.


Gegen Ende des Sees rücken die Berge zusammen. Zwei zerklüftete Ausläufer wachsen zu einer natürlichen Talsperre zusammen, nur eine Lücke von etwa einer Meile offen lassend. Dort, am EInfluss der Gilbe, liegt Seehafen. An nördlichen Ufer erheben sich die eng zusammenstehenden Fachwerkbauten der Altstadt. Über eine niedrige Holzbrücke gelangt man in den südlichen Stadtteil, der von einigen Backsteinhallen dominiert wird. Darum herum wachsen Blockhütten und Baracken bis weit die Hänge hinauf. An mehreren Stellen reflektieren Seilbahnkabel in der Sonne, die vom Stadtrand in schattigen Seitentälern verschwinden.


Elsi Breschweid lenkt ihr Gefährt über eine vorgespurte Schneise ans Südufer, weit weg von der Mündung der Gilbe. "Dort bricht das Eis", erklärt sie rasch, ehe wir unseren Landeplatz erreichen. Wir stellen uns vor, was geschähe, wenn wir uns auf einer Scholle talwärts treiben liessen. Wo kämen wir hin?


Der Goldgräber

"Früher oder später werde ich steinreich." Das sagt Remund Pfifferling. Sein weiches Gesicht und seine vollschlanke Statur täuschen darüber hinweg, was in ihm schlummert: Ein waschechter Goldsucher. Ausgerüstet mit Pickel und Wünschelrute steigt er seit neuneinhalb Jahren und vierzehn Tagen - so versichert er uns - in die Berge, um seine ersehnte erste Ader zu finden. Auf unsere Frage, was ihm bisher den Reichtum verwehrt habe, meint er spitzbübisch: "Glück."


Remund nimmt uns mit über den mit wackligen Holzstegen ausgelegten Weg den Feistergraben hinauf, der allseits Goldschlucht genannt wird. Unterwegs klärt er uns wortreich über die Geschichte Seehafens auf. Ein Ort mit rauen Menschen sei es immer gewesen. Doch früher hätten hier vorwiegend Holzfäller gelebt, die ihr Geld damit verdienten, im Sommer in die Täler hochzusteigen, um die seltenen, aber wertvollen Kolosskiefern zu schlagen und sie im Winter mit Pferdeschlitten über das gefrorene Binsenloch bis zum Flusshafen zu ziehen, wo sie auf Lastkähne verladen und in die Niederungen geschifft wurden.

Im Jahr 963 (107 nach Gespinsterwalder Zeitrechnung) habe sich alles geändert, weil eine einfache Eintrinderin im Feistergraben nördlich des Binsenlochs einen Goldklumpen fand. Danach seien zahllose Menschen nach Seehafen geströmt, um sich in den unwirtlichen Seitentälern ein Stück Land zu sichern und ein Vermögen zu machen - und einige davon seien zu fabelhaftem Reichtum gelangt - sagte zumindest Remund mit glühenden Wangen.


Die Wahrheit ist freilich eine andere: Bis auf ziemlich ertragreiche Minen wurde kaum Gold gefunden. Die Einzigen, die wirklich von dem Goldwahn profitierten, waren die Landbesitzer, die Händler und das Gastgewerbe. Doch die kurze Phase führte zu chaotischen Zuständen und die Stadt hätte sich ohne Zweifel binnen kurzem in ein Nest von Gesetzlosen verwandelt, wenn die Seehafner Holzgesellschaft nicht ihre private Wachtruppe massiv verstärkt hätte. Als inoffizielle Ordnungshüter sorgten die Truppe dafür, dass sich alle zumindest an die grundsätzlichsten Regeln hielten. Mit der Fertigstellung der Gilbtalbahn (eine Teilstrecke der Ahltalbahn - "mit uns kommen sie ordentlich an Ihr Ziel") entstand eine schnelle Reiseverbindung nach Elverdamm und Sarabant und brachte endgültig Ruhe nach Seehafen.


Remund glaubt nicht an unsere Version. Obwohl er viel später als die meisten Glücksritter in Seehafen aufgekreuzt ist, ist er felsenfest von seinem baldigen Erfolg überzeugt. Wir lassen ihn gerne in dem Glauben und machen uns mit einem Strauss voller Eindrücke auf den Weg zur Kutsche, die uns in einer zweitägigen Reise zurück nach Gespinsterwald bringen wird.



Wissenswertes über Seehafen


Hoheitsgebiet: Vereinte Ostländer

Region: Gilbtal

Koordinaten: 21 Ost 140 Nord

Die westlichste Stadt im Gilbtal


Seehafen ist die einzig grössere Stadt in der Region Gilbtal. Sie liegt etwa 60 Meilen (Luftlinie) östlich von Gespinsterwald am Rand der unwirtlichen Hochgebirgsregionen. Die Siedlung hatte zum Zeitpunkt unseres Besuchs etwa 15'000 Einwohner und steht am westlichen Ende des Binsenlochs, dort wo die Gilbe in den See mündet.



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