Eine Legende über die beste Geschichte aller Zeiten
Schon lang ist’s her, der Berg noch jung, der Fluss noch frei, da traten drei Gesellen aus den Schatten:
Sie hießen Hunger, Seuche, Krieg und waren aufgebrochen, zu vernichten. Ob arm, ob reich, ob gut gesinnt, ob lästerlich: Sie unterschieden nicht, zerstörten alles, was sich ihren Klauen darbot.
Besonders hart umklammert hielten sie den Landstrich, der im Volksmund Bockhorntal genannt, und plagten eine Sippe Bauern bis zum bitterbösen Ende; tilgten Herden, Felder, Häuser und als letztes selbst die braven Menschen.
Als Einziger verschont von diesem Treiben blieb der Bube eines Melkers; und er floh hinfort, tief ins Gebirge, bis die Felsen und der Schnee ihm seinen Weg versperrten, warf sich nieder und dort flehte er die Höchsten, unsre Berge, um Erbarmen, fiel in sanften Schlummer und vergaß die Welt um sich herum.
Am nächsten Tag bemerkte er vor sich den Eingang einer Höhle, stieg hinein und fand am Ende aufgebahrt auf einem Stein ein Buch, das beste aller Zeiten. Man sagte sich, es hieße so, weil jedes Wort darin perfekt sei; dergestalt, dass alle Sätze, die man ihm entlocke, auf der Stelle Wahrheit würden.
Der Melkerjunge dankte allen Bergen, zog ins Tal zurück und fing an zu erzählen, wo die Hungersnot am größten war, um sie zu lindern; las, wo Seuchen um sich griffen, ließ sie kühn verschwinden, Kriege enden und die Menschen sich versöhnen.
Gepriesen wurde unser Melker, hochgelobt, und alsbald ließ man ihm ein Schloss errichten und erhob ihn über alle anderen zum König.
Zufrieden sass er auf dem höchsten Turm. Er sah, dass alles sich zum Guten hingewendet hatte, ja, das beste Buch der Welt nicht mehr verwendet werden musste. Also trug er es hinunter in den tiefsten Kerker seines Schlosses, schwor bei Adarok, es nicht mehr zu berühren.
Im glücklichsten von allen Enden hätte hier die Mär sich schließen können, wenn der König nicht der blinden Lust verfallen wäre.
Ein Weib, bezaubernd schön, erblickte unser Herrscher, und obwohl sie längst versprochen war, entriss er sie dem vorgesehnen Bräutigam und führte sie in seine Kammer. Drei an Jahren gingen glücklich nun ins Land, doch schon im vierten trübte sich das Glück des Paares, denn wie sehr sie sich auch wünschten, dass ein Kindlein sie bekämen, blieb die frohe Botschaft aus.
Kurz spielte unser König mit dem Vorsatz, abermals das Buch zu wecken, das da tief im Schlummer lag, doch ahnte er, dass niemand es aus purem Eigennutz benutzen sollte – und blieb stark. In seiner Not jedoch verzweifelnd, wusste er nicht anders sich zu helfen, als Mumafauk persönlich anzurufen, Herrin aller Träume; und ehe nur ein Jahr vergangen, ward seine Gattin schwanger, hielt er mit ihr ein Kindlein in den Armen, rein wie Schnee.
Alles was an Rang und Namen lebte, lud man ein zur Taufe, um es mit den frommsten Wünschen zu beschenken: Weitsicht, Rücksicht, Umsicht, Einsicht, Vorsicht, Nachsicht und in jeder Hinsicht: Liebe!
Als das Fest an seinen Höhepunkt gelangte, schwand die Sonne und der Mond bedeckte kühn das Taggestirn, und aus dem Schatten trat die Herrin aller Träume, Mumafauk daselbst herab und sprach:
«Habt ihr nicht den hehrsten Gast vergessen, mich, die euch das fröhliche Gebaren überhaupt erst möglich machte? Hört die Strafe für den Undank, den ihr mir entgegenbringt: Alles, was dies Kindlein mit der linken Hand berührt, das soll verflucht sein! Und mit fünfzehn Jahren wird es euer Reich dem Untergang entgegenführen.»
Die Königin, die war zurecht erzürnt. Sie tadelte denn Herrn Gemahl für dessen Fehlverhalten. Trotzdem suchte sie nach einer Möglichkeit, den Fluch der Mumafauk zu brechen. Deshalb kam es, dass das Kindlein einen Schutz aus Eisen, einen Handschuh, über seine Linke streifen musste, der Gefolgschaft aufgetragen wurde, ihn in keinem Falle auszuziehen – komme, was geschehe.
Das Kind, das doch mit allen Tugenden versehen, hielt sich wacker an die Regeln seiner Mutter, wuchs heran und ließ sich nichts zu Schulden kommen, selbst wenn es sich mit seiner rechten Hand gar ungeschickt anstellte und so manches Mal sich heimlich wünschte, seine Linke zu gebrauchen. Doch als das Jahr zum fünf und zehnten Mal sich neigte, die Eltern schon erleichtert dachten, «jetzt ist die Gefahr gebannt», und sich auf große Fahrt begaben, sah das Königskind die Chance, sich für einmal unbeachtet umzusehen. Sachte strich es durch die Hallen, schlich durch Korridore, Kammern, stieg auf Türme und gelangte endlich auch hinab in jenen Keller, wo das Buch verborgen war.
Und weil das Königskind, von Mumafauk verdreht, mit seiner rechten Hand nichts Rechtes wirken konnte, streifte es den Handschuh ab. Es hob den Deckel, blätterte mit links und fing an laut zu lesen. Ach, denkt nur, was geschieht, wenn man mit seiner falschen Hand das Buch umblättert: Man liest es rückwärts und genau dies war’s, was ihm geschah.
Alles, was das Kind erzählte, wurde umgedreht: Herrlichkeit zerbarst in Schrecken, Zahmes wurde Ungetüm, das Reich versank in einer nie gekannten Finsternis. Mumafauks Gestalten brachen durch die Schatten in die Welt hinein: Trolle, Feen, Wichte, Fauke, Mantikore, Drachen suchten alsbald die Gefilde heim.
Das Königskind jedoch, das blieb verzückt in seinem Keller, merkte nicht, wie ringsum längst die Mauern wankten und das Schloss in sich zu Staub zerfiel. Es las und las und las und sank so tief in die Geschichte ein, dass niemand es aus seinem Wahn erretten hätte können.
Die Fügung wollte es, dass eines schönen Tags ein frommer Bruder in die Gegend kam, sich wundernd, was in jenem Schloss verborgen war: Im tiefsten Keller fand er es, das blasse Kind, versonnen murmelnd in ein Buch vertieft. Er nahm dem armen Ding das Werk aus seiner Hand, er schlug es zu und lief hinfort.
Das Königskind, das nicht aus freien Stücken aufgehört und die Geschichte nicht zu Ende bringen konnte, musste rettungslos an ebenjener Stelle stumm verharren, wo der Bruder es aus seinem Lesefluss gerissen hatte. Lange dauerte es nicht, da tat es schon den letzten Atemzug.
Der Bruder jedoch brachte die Geschichte weg, die Beste aller Zeiten, weit hinein ins Herz der Wirbelberge – und seitdem ist es in unserem Lande nimmermehr gefunden worden.
Noch heute aber zürnt die Mumafauk dem Undank aller Menschen, zieht ihr Geist mal hie, mal da durch uns’re Kinderstuben. Und hat er erst ein Kind berührt, so wird es – ach ihr ahnt es schon: verdreht.
Comments